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Wie Svenja Mertens das autonome Fahren aus psychologischer Perspektive denkt
Svenja Mertens, HMI-Entwicklerin bei MAN, über ihre Dissertation und Human Factors in der Logistik.

In a nutshell: Was passiert, wenn der Fahrer fehlt? Diese scheinbar einfache Frage war der Ausgangspunkt für die Dissertation von Svenja Mertens – und führte sie tief hinein in ein Thema, das bisher in der Diskussion um autonomes Fahren oft unterbelichtet bleibt: die Rolle des Menschen im zukünftigen Logistikprozess.
„Der Mensch ist kein Auslaufmodell“
In ihrer Dissertation untersuchte Svenja Mertens den Einfluss automatisierter LKW auf das Arbeitssystem im Hub-to-Hub-Verkehr – mit einem klaren Fokus auf den Menschen im Prozess. Die Idee dazu entwickelte sich aus ihrer Tätigkeit bei MAN, wo sie hautnah mitverfolgte, wie stark sich der Fokus auf die technische Umsetzung automatisierter Fahrfunktionen konzentriert. „Alle haben immer gefragt: Wie bekommen wir es hin, dass der LKW autonom fährt? Aber kaum jemand hat gefragt: Und was passiert eigentlich drumherum, wenn plötzlich kein Fahrer mehr im LKW sitzt?“ erzählt sie.
Als studierte Psychologin mit Schwerpunkt Human Factors – also dem Zusammenspiel von Mensch und Technik – war für sie klar: Die Perspektive muss breiter sein. „Ich wollte wissen, was das für das gesamte Arbeitssystem bedeutet. Also: Wie ändern sich Abläufe? Welche Aufgaben fallen weg, welche kommen hinzu? Und wie wirken sich diese Veränderungen auf die Menschen aus, die in diesem System arbeiten?“
Realistische Szenarien statt Laborbedingungen
Für ihre Analyse wählte Svenja ein Szenario, das auf umfangreicher Feldrecherche basiert: Der autonome LKW fährt ohne Fahrer zum Eingang eines Logistik-Hubs, weiter allerdings nicht. „Ich war in mehreren Hubs vor Ort und habe festgestellt, dass das Gelände dort in der Praxis eher chaotisch ist – wie städtischer Verkehr, nur enger. Technisch ist es extrem schwierig, das zu automatisieren, ohne die komplette Infrastruktur umzubauen.“ Deshalb konzentrierte sie sich auf eine Übergangsphase, in der der LKW autonom bis zum Eingang fährt, aber im Hub selbst manuell weiterbewegt werden muss.
Sie analysierte zwei zentrale Rollen im zukünftigen System:
- Den „Hub-Fahrer*in“, der das Fahrzeug auf dem Gelände bewegt.
- Die Be- und Entlader*innen, die weiterhin für das Laden und Sichern der Fracht verantwortlich sind.
Beide Rollen sind, trotz der Automatisierung, essenziell. „Gerade beim Be- und Entladen brauchen wir auch künftig Menschen“, stellt Svenja klar. In Interviews, Beobachtungen vor Ort und einer strukturierten Arbeitsanalyse untersuchte sie, welche Veränderungen auf diese Beschäftigten zukommen und wie attraktiv die neu entstehenden Tätigkeiten gestaltet werden könnten.
Der Mensch bleibt unverzichtbar
Ein zentrales Ergebnis ihrer Arbeit: Der Mensch bleibt auch im automatisierten Prozesssystem unverzichtbar – zumindest auf absehbare Zeit. „Die Fahrer übernehmen heute viele Aufgaben: Sie navigieren auf dem Gelände, übergeben Dokumente, helfen beim Entladen, sichern die Ladung. Wenn sie wegfallen, müssen diese Aufgaben neu verteilt werden.“ In der Theorie könnte das das bestehende Personal übernehmen, doch ist das auch realistisch?
Svenja führte unter anderem eine Studie mit LKW-Fahrer*innen durch, um herauszufinden, ob sich diese eine neue Rolle als Hub-Fahrer vorstellen könnten, da sie zukünftig in autonom fahrenden LKWs nicht mehr gebraucht werden. Aus ihrer Sicht ein angenehmerer Job mit festen Arbeitszeiten, täglicher Heimkehr, ohne Fernfahrstress. Überraschenderweise war das Ergebnis eher anders: „Ich dachte, das müsste total attraktiv sein, aber viele sagten mir: Nee, ich liebe das Unterwegssein, das ist genau das, was meinen Job ausmacht.“
Ganz anders war das Stimmungsbild bei den Be- und Entlader*innen. „Viele waren mit ihrer aktuellen Arbeit zufrieden, aber auch offen für Veränderungen, vor allem, wenn sie neue Aufgaben übernehmen und mehr Verantwortung bekommen.“ Einige zeigten sogar Interesse, sich für den Hub-Fahrer*in-Job weiterzuentwickeln. Besonders auffällig: „Fast alle sagten: Ich mach, was man mir sagt – wenn mein Chef sagt, ich soll das machen, mach ich das auch.“
Zwischen Akzeptanz und Aufwertung
Doch genau hier liegt ein sensibler Punkt: Wird die zusätzliche Verantwortung nicht auch sichtbar gewürdigt, droht Unmut. „Wenn ich mehr mache, dann möchte ich auch mehr kriegen“ – dieser Satz fiel in Svenjas Interviews nicht nur einmal. Für Svenja ist klar: Es braucht Wertschätzung, gezielte Kommunikation und eine faire Entlohnung, wenn der Change-Prozess gelingen soll.
Auch aus Sicht der Hub-Betreiber*innen wurde deutlich: Viele haben weder den Platz noch die Mittel, ihre bestehenden Prozesse grundlegend umzustellen. „Die erwarten, dass sich der LKW in das bestehende System einfügt – nicht umgekehrt.“ Genau das mache Svenjas Forschung so relevant: Sie zeigt auf, dass Technik nur dann funktioniert, wenn sie in die Praxis passt und wenn Menschen mitgenommen werden.
Psychologie trifft Logistik
Der Weg in die Logistik war für Svenja nicht vorgezeichnet. „Ich habe Psychologie studiert, weil ich Menschen spannend finde – nicht, weil ich LKWs spannend fand.“ Erst ein Seminar über Fahrsimulatoren im Bachelor weckte ihr Interesse an der Mensch-Maschine-Interaktion. Später folgte ein Praktikum bei MAN im Forschungszentrum Fahrerarbeitsplatz und schließlich die Promotion.
Auch wenn sie sich in einer eher technikdominierten Welt bewegt, wird ihre Perspektive geschätzt: „Ich hab viel positives Feedback bekommen – viele haben gesagt: Stimmt, das ist genau die Perspektive, die noch gefehlt hat.“
Regelmäßig stellte sie ihre Ergebnisse auch den technischen Entwicklungsteams vor und sorgte damit für wichtige Impulse: „Ich glaube, es hat die Sichtweise verändert – nicht auf Knopfdruck, aber Stück für Stück.“
Mehr Fragen als Antworten
Wie jede gute Forschung, wirft auch Svenjas Arbeit neue Fragen auf. „Eigentlich ist an jeder Stelle noch etwas offen. Kein Hub ist wie der andere, eine pauschale Lösung wird es nicht geben.“ Besonders spannend findet sie die Idee, herauszufinden, welche Eigenschaften ein Hub haben muss, damit die Einführung autonomer LKWs besonders gut gelingt.
Ihr Fazit: „Technologischer Fortschritt kann am Menschen scheitern – wenn wir ihn nicht von Anfang an mitdenken.“ Genau deshalb fordert sie, dass in Zukunft mehr interdisziplinär gearbeitet wird und der Mensch in der Technikentwicklung keine Randnotiz bleibt.
Svenja Mertens zeigt mit ihrer Forschung: Der LKW der Zukunft fährt vielleicht ohne Fahrer*in, aber nicht ohne Menschen. „Es bringt nichts, wenn wir LKWs automatisieren, aber die Prozesse dahinter nicht mitdenken“, betont sie. Ihre Forschung schließt eine Lücke, die bislang viel zu selten beachtet wurde und macht Mut, Technik mit Menschlichkeit zu verbinden.